Vitali Klitschko bei Kerner: "Die Deutschen machen einen Riesenfehler"

Als Kiewer Bürgermeister erlebt der ehemalige Profiboxer Vitali Klitschko (links) die Ausnahmesituation des russischen Angriffskriegs hautnah mit. Mit Johannes B. Kerner unterhielt sich Klitschko im MagentaTV-Talk "Bestbesetzung" über seine Erlebnisse. (Bild: MagentaTV / Max Kohr)
Als Kiewer Bürgermeister erlebt der ehemalige Profiboxer Vitali Klitschko (links) die Ausnahmesituation des russischen Angriffskriegs hautnah mit. Mit Johannes B. Kerner unterhielt sich Klitschko im MagentaTV-Talk "Bestbesetzung" über seine Erlebnisse. (Bild: MagentaTV / Max Kohr)

Die Ukraine und ihre Hauptstadt Kiew bereitet sich auf den zweiten Kriegswinter vor. In Johannes B. Kerners Talkshow "Bestbesetzung" spricht Vitali Klitschko, ehemaliger Box-Champ und Bürgermeister der Metropole, über persönliche Tiefschläge und die gefährliche Kurzsichtigkeit der Deutschen.

"Wir müssen alles tun, um diesen Sch...-Krieg zu stoppen." Vitali Klitschko (52) wird alles für dieses Ziel, das größte seines Lebens, tun. Er hat die Trostlosigkeit, die Tragödie in seinem kriegsgebeutelten Land einfach satt. Im Gespräch mit Johannes B. Kerner für dessen Talkformat "Bestbesetzung" (MagentaTV) schilderte Klitschko, wie er im Zug von der Frontlinie in der Ostukraine zurück nach Kiew fuhr: "Du fährst stundenlang an unzähligen leeren Häuser vorbei. Mit leeren Fenstern. Aber hinter jedes Fenster gehört eine Familie. Aber wer hat Arbeit, wer hat eine Zukunft?"

Klitschko war trotz all der anerzogenen, auch im Sport höchst erfolgreich gelebten Disziplin im Interview anzumerken, dass dieser zermürbende Verteidigungskrieg auch beim früher respektvoll "Doktor Eisenfaust" genannten Hünen Spuren hinterlässt. Aber auch, dass er Kämpfer bleiben wird für seine Stadt, für sein Land, für seine feste Überzeugung: "Wir gewinnen den Krieg, es ist nur eine Frage der Zeit."

Vitali Klitschko (links) traf sich mit Gastgeber Johannes B. Kerner aus Sicherheitsgründen an einem geheimen Ort in Berlin. (Bild: MagentaTV / Max Kohr)
Vitali Klitschko (links) traf sich mit Gastgeber Johannes B. Kerner aus Sicherheitsgründen an einem geheimen Ort in Berlin. (Bild: MagentaTV / Max Kohr)

Vitali Klitschkos Hoffnung: "Nächstes Jahr das Ende des Krieges erleben"

Klitschko drückte bei Kerner seine Hoffnung aus, dass "wir nächstes Jahr das Ende des Krieges erleben". Seine Vorstellung vom Frieden ist, dass "der letzte russische Soldat das Gebiet der Ukraine verlassen muss". Dazu gehöre selbstverständlich auch die Krim. Die Halbinsel annektierte Russland bereits März 2014. Zwei Monate später gewann Klitschko die Bürgermeisterwahl in Kiew. Acht Jahre später griff Putins Russland die Ukraine an.

Seither stemmt sich das seither Land aufopferungsvoll gegen die Übermacht des Aggressors: "Die Experten haben uns ein paar Wochen gegeben. Aber wir verteidigen uns schon seit anderthalb Jahren gegen eine der stärksten Armeen der Welt. Die Ukraine hat die Welt verblüfft."

Klitschko weiß, dass der Kampf ohne Unterstützung von außen immer schwerer fallen wird. Kiews Bürgermeister, der sich aus Sicherheitsgründen mit Kerner an einem geheimgehaltenen Ort in Berlin traf: "Tausend Dank für jede Unterstützung, für finanzielle, politische und militärische." Er wisse durchaus, dass etwa die Situation mit den ukrainischen Flüchtlingen für die deutsche Infrastruktur "eine Belastung" sei. Aber auch darüber hinaus täte es den Deutschen, so erläuterte Klitschko, gut, wenn sie den Krieg etwas "ernster" nähmen.

Vitali Klitschko: "Die Deutschen sollten die Lage nicht unterschätzen"

Putin, so Klitschko, sagte selbst, dass die "größte Tragödie" der Zusammenbruch der Sowjetunion gewesen sei. Und er, der ehemalige KGB-Agent, wolle den Traum von der Auferstehung des russischen Imperiums wahr machen - koste es was es wolle. Klitschko: "Auf diesem Weg spielt es für Putin keine Rolle, dass auf beiden Seiten Hunderttausende gestorben sind."

Putin wolle das "alte russische Reich" wiederherstellen, die Ukraine aber, so Klitschko, "will nicht in die Vergangenheit zurück, sondern Teil der europäischen Familie werden". Das wolle Putin mit aller Macht verhindern, ohne Rücksicht auf Verluste. Klitschko: "Es ist kein Krieg. Es ist Genozid. Es ist Terrorismus."

Putins "kranke Vision" (O-Ton Klitschko) sollte auch für die Deutschen besorgniserregend sein. "Wer hier denkt, der Krieg gehe ihn nichts an, weil der ja 1.000 Kilometer weiter östlich sei, der macht einen Riesenfehler", mahnte Klitschko. "Die Deutschen sollten die Situation nicht unterschätzen, denn für Putin gehörten auch große Teile Deutschlands zum sowjetischen Imperium." Der Ausgang des Krieges in der Ukraine sei für Deutschland und Europa wichtig: "Putin wird weitermachen, wenn man ihn lässt. Er ist eine Gefahr für ganz Europa."

"Wenn es um dein Schicksal und das deiner Kinder geht, musst du etwas tun"

Natürlich nutzte Klitschko bei Kerner die Gelegenheit, seine Ansichten darzulegen. "Ich habe sonst keine Gelegenheit, mit so vielen Deutschen zu sprechen." Aber das Interview war mehr als eine Verteidigungsbotschaft, auch wenn sich Klitschko nicht auf die teilweise bemüht sentimentalen Fragen von Kerner einließ.

Natürlich, so Klitschko, verstehe er, wenn es heiße, viele junge Ukrainer wollten nicht kämpfen. "Selbstverständlich! Keiner will kämpfen. Keiner will sterben. Aber wenn es um dein Schicksal und das deiner Kinder geht, musst du etwas tun." Er selbst sei Ex-Soldat und habe geschworen, sein Land zu schützen. Zur Not auch mit dem eigenen Leben.

Angst habe er nur davor, Fehler zu machen. Er sorge sich weniger um sich, als um seine Bürger. Dass er Verantwortung tragen und zur Not auch Fehler anderer ausbaden muss, ist er gewöhnt, wie er launig aus der Kindheit erzählte. Damals musste er als Älterer auf seinen jüngeren Bruder Wladimir aufpassen. "Wenn der Scheiße baute, hat mir abends der Popo wehgetan", denn Vater Klitschko, strenger Luftwaffen-Offizier, zog den Älteren wegen unterlassener Aufsichtspflicht zur Rechenschaft.

"Wir kämpfen für die Zukunft unserer Kinder. Der Russe nur fürs Geld."

Klitschko sprach im Interview von damals ("Wir Kinder mussten die Schuhe der ganzen Familie putzen - und wehe, sie waren nicht sauber, Vater hat's abends überprüft!") und von heute. Zu den schwersten Momenten als Bürgermeister der Kriegsstadt Kiew gehörten Krankenhausbesuche. "Da siehst du junge Menschen, keine 20 Jahre, ohne Beine, ohne Arme oder ohne Augen." Ehrungen seien auch schlimm. Wenn man an Eltern eine Helden-Medaille für den gefallenen Sohn überreichen solle. "Da ist es schwierig, Worte zu finden und zu trösten."

Klitschko sehnt das Kriegsende herbei. "Unser größer Wunsch ist Frieden", sagte er, ließ aber keinen Zweifel daran, dass man weiter gegen den Aggressor kämpfen werde. "Wir kämpfen für die Zukunft unserer Kinder, für unser Land. Wofür kämpft der Russe, außer fürs Geld?"

Klitschko ist nicht der einzige Ukainer, der so denkt. Laut Kerner glaubten über 90 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer, es wäre möglich, jeden Quadratzentimeter des Landes gegen Russland zu behaupten. "Glaubst du, das wird so kommen?", wollte Kerner von Klitschko wissen. Klitschko: "Wir kämpfen dafür."